11
Vater kam gerade, als wir das Abendessen auftischten. Lexi, die sich umgezogen hatte und jetzt ein schwarzes Samtkleid trug, das leicht zerknittert und am Gesäß verblichen war, schaffte es, vor mir an der Haustür zu sein. Frances hielt Growth in der Küche zurück.
»Hallo, ich bin Frances‘ Mutter, Lexi«, sagte sie und hielt ihm die Hand hin.
»Stephen Onions«, sagte Vater zaghaft.
»Sie hätten sich doch nicht den weiten Weg machen müssen - wir hätten Abigail Nachtwäsche leihen können.«
Als ich Vater in Jacke und Schlips mit der Reisetasche in der Hand dort in der Tür stehen sah, bekam ich plötzlich Heimweh. »Wollen Sie nicht reinkommen und mit uns zu Abend essen?«, fragte Lexi. »Oder etwas trinken?«
»Oh nein, ich kann mich nicht aufhalten, vielen Dank. Hier«, sagte er und gab mir die Tasche. »Ich hoffe, du benimmst dich«, und er lachte nervös.
»Oh, sie ist reizend«, sagte Lexi und presste mich an sich. »Eigentlich hat sie das Essen gekocht.«
»Ah-ha«, sagte Vater, nicht sicher, ob das ein Witz war. »Tja, danke für Ihre Gastfreundschaft...« Und er zog sich in die Nacht zurück.
Am Tisch war Mr. Radley aufgetaucht, um das Hähnchen zu tranchieren, während Frances Gemüse auf die Teller schaufelte. Das war das erste Mal, dass ich ihn richtig zu sehen bekam. Er war kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte - ein paar Zentimeter kleiner als seine Frau mit braunem Haar, das sich lichtete und von vorne her langsam grau wurde, und sehr blauen Augen mit einer kleinen Auster aus Schleim in jedem Augenwinkel. Er trug einen Rollkragenpullover - etwas, das mein Vater für unerträglich dandyhaft gehalten hätte den er sich in die Hose gestopft hatte, die unter einem kleinen Bäuchlein mit einem Gürtel fest gehalten wurde. Eine ältere Frau mit einem Wollschal - Auntie Mim, nahm ich an - saß mit dem Rücken vor einem Kohlenfeuer, obwohl es ein warmer Abend war. Sie goss mit zitternden Händen Wasser in sechs Weingläser. Nur Rads Stuhl blieb leer. Growth zog Kreise um den Tisch wie ein Hai um ein Wrack.
»Wie wunderbar dieser Vogel duftet«, sagte Auntie Mim. »Nein, ich möchte nichts davon, danke.« Frances hatte mir schon erzählt, dass sich Auntie Mim schon seit Menschengedenken nur von Rosenkohl, Kartoffeln und schwachem Tee ernährte. Als wäre das nicht schon seltsam genug, durfte keiner über diese seltsame Gewohnheit sprechen; sie bekam weiterhin Hähnchen, Karotten und Soße angeboten, was sie nach kurzer Überlegung wie aus einer Laune heraus höflich ablehnte.
»Etwas Füllung für dich, Tantchen?«, fragte Lexi.
»Ahm, ach weißt du, ich glaube nicht, danke.«
Nach ein paar Minuten begann ich sie um ihre Zurückhaltung zu beneiden: Die Portionen waren riesig. Mr. Radley hatte mir ein ganzes Bein gegeben - Hüfte, Oberschenkel, Wade, Fußgelenk und alles - und ich hatte keine Ahnung, wie ich es bewältigen sollte. Zu Hause bekam ich immer nur das weiße Fleisch. Ich weiß nicht, wo meine Mutter unsere Hähnchen kaufte, aber sie mussten ohne Knochen gezüchtet worden sein. Gerade als der letzte dampfende Teller auf Rads leerem Platz abgestellt wurde, hörte man das Geräusch von lauten Schritten, die zwei Treppen herunterkamen, und der Nachzügler betrat mit einem Buch unter dem Arm den Raum. Wortlos glitt er auf seinen Stuhl und stützte das offene Buch gegen die Rosenkohlschüssel. Albert Camus, Die Pest stand auf dem Buchrücken.
»Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast«, sagte Mr. Radley plötzlich mit dröhnender Stimme, was uns zusammenzucken ließ. Erst als alle anderen missbilligende Töne von sich gegeben oder gesagt hatten, er sollte nicht dumm sein, wurde mir klar, dass er Witze machte. Das fand ich ziemlich schockierend, da Mutter bei uns zu Hause ernsthaft das Tischgebet sprach, normalerweise sogar ziemlich ausführlich, wobei sie die Hungernden in anderen Ländern beschwor, um mich zu erpressen, meinen Teller leer zu essen. Er blinzelte mir zu, was mich erröten ließ, und immer, wenn ich danach seinen Blick auffing, tat er es wieder und genoss meine Verlegenheit.
»Rad, ich dachte, wir hätten uns geeinigt, dass du beim Frühstück lesen kannst, aber nicht beim Abendessen«, sagte seine Mutter vernünftig.
»Hmmph«, grunzte er, ohne von der Seite aufzusehen.
»Wir essen ja nicht so oft zusammen«, fuhr sie fort.
»Oh, Preiselbeeren«, sagte Auntie Mim und nahm die Sauciere hoch. »Wunderbar pikanter Geschmack.«
»Eben«, sagte Rad.
»Nein, nicht für mich, danke, mein Lieber.«
»Wieso sollte ich mich an eine Vereinbarung halten, die nicht einmal fest ist?«
Alle außer mir machten mit ihrem Abendessen große Fortschritte. Frances hatte ihren Teller schon fast leer, während ich immer noch mit Knochen und Sehnen kämpfte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, mit Messer und Gabel in das Hähnchenbein zu stechen, drehte es sich auf dem Teller und kickte Rosenkohl und Karotten auf den Tisch. Ich verbrachte genauso viel Zeit damit, das Gemüse aufzufangen und wieder auf den Teller zu befördern, wie mit essen. Die Hitze im Raum war gewaltig: das Kohlenfeuer, der Dampf von den Tellern und Growth, der hechelnd auf meinen Füßen lag. Ich fühlte, wie sein kleiner Golfball gegen meinen Knöchel drückte, und wagte nicht, mich zu rühren. An den Fenstern lief Kondenswasser herunter. Die anderen, außer Auntie Mim, waren schon bei der zweiten Portion, bevor ich überhaupt das Muster auf meinem Teller sah. Mein Weinglas schien ein Loch bekommen zu haben - jedes Mal, wenn ich es an die Lippen setzte, tropfte Wasser am Stiel hinunter auf meinen Schoß.
Mr. Radley hatte Erbarmen mit mir. »Du isst das doch nicht mehr, stimmt‘s?«, sagte er und zeigte auf das Hähnchenbein, das, seit ich es malträtiert hatte, sogar noch größer aussah.
»Nein«, gab ich widerstandslos zu.
»Gut. Ich hatte gehofft, du würdest das sagen.« Er beugte sich herüber, spießte es mit der Gabel auf und holte es sich auf seinen Teller, wobei er zwischen uns eine Spur aus Soßentropfen hinterließ.
»Du hast dich ja so fein gemacht«, sagte er zu seiner Frau, als es ihm zum ersten Mal auffiel. »Gehst du noch aus?«
»Nur mit Clarissa auf einen Drink in den Golfklub«, sagte Mrs. Radley. Clarissa war ihre jüngere, unverheiratete Schwester, die in Sevenoaks ein wildes Junggesellinnendasein genoss. »Übrigens«, sie sah auf die Uhr, »holt sie mich um halb zehn ab.«
Plötzlich war alles vorbei. »Gott, ist es schon so spät?«, sagte Mr. Radley und stieß seinen Stuhl um, als er aufsprang. Das Hähnchenbein immer noch umklammert, brach er zur Arbeit auf. Das nahm Rad als sein Stichwort, um wieder nach oben zu verschwinden; Mrs. Radley entschwand in einer Wolke pfeffrigen Duftes zum Golfklub und überließ das Aufräumen Frances und mir. Auntie Mim saß noch am Tisch und aß ihren Rosenkohl zu Ende. Es tat mir gut zu sehen, dass jemand noch langsamer war als ich.
Später in Frances‘ Zimmer zogen wir uns, einander den Rücken zugewandt, schüchtern aus. Mum hatte mir das Nachthemd eingepackt, das ich am wenigsten mochte eins aus grünem Nylon, das grässlich kratzte. Im Spiegel der Frisierkommode sah ich, wie Frances sich aus ihrem BH wand. Sie war das einzige Mädchen in der Klasse, das einen trug, eine Tatsache, auf die man durch ihr offensichtliches Unbehagen und ihr ständiges Herumfummeln an den Trägern aufmerksam wurde. Mit einem reißenden Geräusch und einer knisternden blauen Funkenentladung zog sie die Laken aus aufgerautem Nylon zurück. In meinem Nachthemd würde ich an ihnen festkleben wie ein Klettverschluss. Nachdem sie einige Zeit mit Zähneputzen verbracht hatte, holte Frances eine Dose Siruptoffees aus dem Nachtschränkchen, und wir saßen mit zusammengeklebten Kiefern im Bett, versuchten zu kauen, kicherten und sabberten, alles gleichzeitig.
»Was hältst du von Rad?«, fragte Frances durch eine Zahnspange aus Toffee.
»Ganz okay«, antwortete ich und errötete bei der Lüge. Schließlich hatte sie ihn mir schon seit Monaten angekündigt, bis ich entschlossen war, mich, wenn er nicht wirklich furchtbar wäre, hemmungslos in ihn zu verlieben.
»Ganz okay?«, wiederholte sie indigniert. »Na ja, du hast ihn noch nicht in Bestform erlebt.«
Frances brachte ihr Tagebuch auf den neuesten Stand, während ich höflich die Augen abwandte, und dann schaltete sie das Licht aus, aber der Raum blieb von der Straßenlaterne und den gleitenden Autoscheinwerfern draußen halb erleuchtet. Im Vergleich zur Sackgasse war der Verkehrslärm ohrenbetäubend. Die Matratze hing durch wie eine Hängematte, und wir rollten immer wieder in die Mitte und stießen mit den Ellbogen zusammen, deshalb legte ich mich so nah wie möglich an die Bettkante und klammerte mich wie ein Faultier mit Fingern und Zehen fest, um nicht immer wieder in den Graben zu fallen. Innerhalb von Minuten war Frances eingeschlafen und atmete gleichmäßig, während ich die Autos zählte, die draußen vorbeibrausten, bis ich um zwölf hörte, dass Mrs. Radley heimkam und sich, leise singend, in ihr Einzelbett zurückzog. Nicht viel später döste ich ein und träumte, ich würde am Rand einer Felswand hängen. Viel später weckten mich die Geräusche, die Mr. Radley bei seiner Rückkehr von der Arbeit machte. Ein Schlüssel knirschte im Schloss, die Tür schloss sich mit einem Klick, und dann hörte ich ein Krachen, gefolgt von Fluchen, als er im Flur über etwas stolperte.
Am Morgen, als Frances im Bad war, zog ich mich schnell an und begann, in Erinnerung an Mutters Anweisungen, das Bett abzuziehen. Ich hatte alles ordentlich auf der nackten Matratze gestapelt und zog gerade den letzten Kissenbezug ab, als Frances wieder hereinkam.
»Was tust du da?«, fragte sie wie vom Donner gerührt. »Mum«, appellierte sie an Mrs. Radley, die gerade in Bademantel und Turban über den Treppenabsatz sauste. »Sie hat gerade mein ganzes Bett abgezogen.«
Mrs. Radley sah mein rotes Gesicht und die nackte Matratze und sagte: »Tja, weil das höflich ist.«
»Davon habe ich noch nie was gehört.«
»Trotzdem ...«
»Jetzt muss ich alles wieder draufziehen«, sagte Frances verärgert.
»Nein. Du bringst die Bezüge in den Waschsalon. Ich habe ein paar Decken, die du mit in die große Maschine stecken kannst, wenn du schon mal da bist.«
»Gut gemacht, Abigail«, sagte Frances mit mürrischem Gesicht und sah genauso aus wie ihr Bruder.
»Woher sollte ich wissen, dass ihr euch ein Bett teilt?«, sagte Mutter, als ich ihr bei meiner Rückkehr empört von dem Zwischenfall berichtete. Sie war in der Küche und machte Teig für Yorkshire Pudding, den sie heftig rührte, um die Klümpchen aufzulösen. Vater war weg. »Wer hat je davon gehört, dass ein Mädchen in dem Alter ein Doppelbett hat?« Und sie rümpfte die Nase, als könnte sie, selbst aus dieser Entfernung, die schmutzige Wäsche riechen.